Marc Minkowski dirigiert französische Romantik
Nikolaus Harnoncourt war nicht nur ein Pionier bezüglich historischer Aufführungspraxis. Als Dirigent gab er auch den Weg vor, sich nicht auf das barocke und frühklassische Repertoire zu beschränken, sondern sich mit den Jahren in die Spätromantik vorzutasten. Kein leichter Weg, wie Marc Minkowski bezeugt: "Tatsächlich habe ich mich immer dagegen verwahrt, als 'Spezialist' oder als 'Archäologe' abgestempelt zu werden – ich bin einfach ein Musiker, der Werke von sehr unterschiedlichen Komponisten und aus unterschiedlichen Epochen aufführt."
Les Musiciens du Louvre
Minkowski, Jahrgang 1961, begann als Fagottist in den einschlägigen Ensembles der "Alten Musik" (wie man in den 80er-Jahren noch unbekümmert sagte). Tief beeindruckt von den Pionieren Nikolaus Harnoncourt, Sigiswald Kuijken, René Clemencic und Reinhard Goebel und durch Dirigierkurse ermutigt, gründete er 1982 sein eigenes Ensemble: Les Musiciens du Louvre. Mit diesem Ensemble schrieb er Aufführungsgeschichte. Verständlich, dass sich das ORF Radio-Symphonieorchester Wien für seine erste Begegnung mit Minkowski einen Offenbach, einen Mendelssohn oder wenigstens einen Cherubini gewünscht hatte. Doch Marc Minkowski warb leidenschaftlich für das große französische Repertoire.
Ö1-Konzertübertragung:
25.01., 19.30 Uhr
Debussy: Trois Nocturnes
Den Anfang im Großen Saal des Konzerthauses, dessen "warme und großzügige Akustik" Minkowski liebt, machen die "Trois Nocturnes" von Claude Debussy, komponiert kurz vor der Jahrhundertwende. Die Form der seit Chopin so beliebten Nocturnes für Klavier reizte Debussy nicht, ihn faszinierten vielmehr "die besonderen Licht-Effekte, die das Wort in uns wachruft." Und so malt Debussy mit der raffinierten Farbpalette der Impressionisten drei betörende Stimmungsbilder: zunächst die Wolken, die gleich Schatten am Abendhimmel vorüberziehen, dann die Ausgelassenheit nächtlicher Feste, schließlich – für alle, die allein am Meeresufer entlang streunern – die lockenden Gesänge der Sirenen. Dass Debussy an dieser Stelle einen Frauenchor herbeizitiert, steht der Verbreitung der "Trois Nocturnes" im Konzertsaal im Wege. Was schade ist, wie sich jeder und jede beim RSO-Konzert oder bei der Ö1-Übertragung überzeugen kann.
Chausson: Symphonie B-Dur
Die große Symphonie in der zweiten Konzerthälfte stammt von Ernest Chausson, dem mit Debussy befreundeten Kollegen. Die Symphonie B-Dur op. 20 gilt als Chaussons Meisterwerk. Entstanden ein Jahrzehnt vor den "Trois Nocturnes" zeigt sie sich stärker als jene der traditionellen Formensprache verpflichtet. Ein Fest für diejenigen, die bei aller romantischer Prachtentfaltung auf das übersichtliche Gehäuse nicht verzichten wollen.
Franck: Variations symphoniques
Als Chaussons Lehrer César Franck starb – im gleichen Jahr, da jener seine Symphonie vollendete –, kannte man ihn lediglich für eine Handvoll Kompositionen, die er in seinen letzten Lebensjahren komponiert hatte, darunter die Violinsonate, die d-moll-Symphonie und eben ein viertelstündiges Klavierkonzert, die "Variations symphoniques". Als Solisten begrüßen Marc Minkowski und das RSO Wien Denis Kozhukhin, der, geboren 1885 in Nizhni Novgorod, seit seinem Ersten Preis beim Königin Elisabeth Wettbewerb in Brüssel 2010 durch die großen Musikmetropolen der Welt reist. Im Wiener Konzerthaus debütierte er 2014, kehrte für mehrere Soloabende zurück und trifft nun erstmals auf das ORF Radio-Symphonieorchester Wien.
Insgesamt eine Programm voller Opulenz und Eleganz. Diese beiden Pole zu vereinen, darf als die große Errungenschaft der französischen Romantik gelten.
Christoph Becher