Alsop/ Henze, Mahler
Fantasia per orchestra
Marin Alsop |
conductor
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Schon in den frühen Jahren meines Komponierens hat die Musik Gustav Mahlers eine Rolle gespielt, keine patriarchalisch-bedrohliche, sondern eine brüderliche, bekräftigende. In zunehmendem Maße hat sie mein Schreiben beeinflusst, und ihr Realismus ist mir heute mehr denn je eine Verpflichtung. Ich denke, dass im Licht dieser Kunst die wesentlichen künstlerischen und moralischen Entscheidungen über die Musik unseres Jahrhunderts fallen. Es ist ein Reden in dieser Musik wie von tausend Menschenstimmen, sie hat die einfachsten Formulierungen für schwierigste Zustände. Mensch und Natur erleben ihren Konflikt in ihr auf eine Weise, wie es nie zuvor dargestellt, ausgesprochen worden ist.
(…) Zum ersten Mal in der Geschichte der Musik fragt eine Musik sich selbst, nach ihrem Daseinsgrund und nach ihrer Beschaffenheit. Ihr Anspruch an sich selbst steht auf der Höhe der Zeit, aus der und in der sie entspringt, es ist eine wissende Musik, mit dem gleichen tragischen Weltgefühl versehen wie Freud, Kafka, Musil. Ihre Provokation beruht in ihrer Wahrheitsliebe und in dem daraus folgenden Mangel an Beschönigung. Wie alle große Musik kommt auch diese aus dem Singen und Tanzen des Volks, aber nichts wird dadurch einfach, nein, alles wird erst wirklich, und wirklich schwer. Es ist viel Trauer um Verlorenes darin, aber auch Botschaften für die Zukunft der Menschen sollen vernommen werden: eine davon heißt Hoffnung, eine andere, an das Wesen der Musik selbst gerichtet, heißt Liebe. Die wünscht sich eine neue Generation von Musikern und ein auf der Lehre Mahlers beruhendes Musikdenken.
Hans Werner Henze (1975)