Opening Concert. Henze: Das Floß der Medusa
Textautor: Ernst Schnabel
Sarah Wegener |
soprano
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Dietrich Henschel |
baritone
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Sven-Eric Bechtolf |
narrator
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Arnold Schoenberg Chor | ||
Wiener Sängerknaben | ||
Cornelius Meister |
conductor
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Der Schiffbruch der »Medusa« war für viele Künstler ein symbolträchtiges Zeugnis: für den Maler Théodore Géricault, der die Rettung einer Handvoll Überlebender auf einem monumentalen Gemälde festhielt; für den Schriftsteller Peter Weiss, der seine Begegnung mit Géricaults Gemälde in dem Roman »Die Ästhetik des Widerstands« schilderte; für den Österreicher Franzobel, der 2017 einen »Medusa«-Roman veröffentlicht hat; und für den Komponisten Hans Werner Henze, der den Vorfall 1967/68 in einem Oratorium dramatisierte.
Die »Medusa« war das Flaggschiff eines französischen Geschwaders, das 1816 von La Rochelle aus in See stieß, um die englische Kolonie Senegal wieder in französischen Besitz zu nehmen. Kurz vor dem Ziel erlitt die »Medusa« Schiffbruch. Rasch waren die Rettungsboote von ranghohen Besatzungsmitgliedern und Beamten der Grande Nation besetzt; für die Mehrzahl der Seeleute und Passagiere blieb nur ein Floß. 154 drängten sich drauf, als man das Schiff verließ. Zunächst wollte man das Floß im Schlepptau mit an Land nehmen, doch da es sich als nicht manövrierbar erwies, kappten die Offiziere die Taue und überließen die Schiffbrüchigen der offenen See. Die Offiziere erreichten nach einem Tag das rettende Land, veranlassten dort aber nicht die Suche nach dem Floß; als es 13 Tage später durch bloßen Zufall gesichtet wurde, waren nur noch 15 der Schiffbrüchigen am Leben. Deren Martyrium schilderten zwei der Überlebenden in einem aufwühlenden Tagebuch. Historiker gehen davon aus, dass die haarsträubende Erzählung vom selbstsüchtigen und unverantwortlichen Verhalten der Befehlshaber zur Befeuerung der Julirevolution beitrug, die 1830 die Bourbonendynastie in Schutt und Asche legte. Hans Werner Henze hat den Skandal um die »Medusa« in einem abendfüllenden und bewegenden Oratorium verewigt. Der Komponist und sein Librettist Ernst Schnabel deuteten die Begebenheit als Parabel auf das gesellschaftliche Gefälle zwischen Gewinnern und Verlierern des Kapitalismus. »Das Floß der Medusa« traf bei der geplanten Uraufführung 1968 in Hamburg auf eine politisch derart aufgeheizte Atmosphäre, dass es zum Eklat kam: Zwei Stunden lang lieferten sich Publikum, Chormitglieder und Komponist Schreiduelle, bis die Polizei kam. Die Uraufführung im Konzertsaal erfolgte erst am 29. Jänner 1971 im Wiener Musikverein durch das damalige ORF-Symphonieorchester. Heute darf »Das Floß der Medusa« angesichts der Flüchtlingskatastrophen im Mittelmeer als »Werk der Stunde« gelten. Das Orchester umfasst seltene Instrumente wie Ofiklëiden, Heckelphon und Oboe d’amore, die eine ungemein vielfarbige und schillernde Musik mit anklagenden, aber auch mit poetischen Momenten hervorbringen. Ein Sprecher erzählt die Geschichte, ein Bariton singt den Part des Überlebenden Jean-Charles, der Sopran verkörpert den Tod, »la mort«. Chor und Knabenchor werden szenisch eingesetzt: Auf der linken Bühnenhälfte steht der »Chor der Lebenden«, der sich im Laufe des Abends zugunsten des rechts positionierten »Chor der Toten« verkleinert. Auch diese Anordnung sorgt dafür, dass man eine Aufführung von »Das Floß der Medusa« nie wieder vergisst. Das ORF Radio-Symphonieorchester Wien unter der Leitung von Chefdirigent Cornelius Meister spielen »Das Floß der Medusa« zur Eröffnung von Wien Modern.
Christoph Becher