Meister, Schmeckenbecher / Haydn, Mahler, Cerha
Symphonie Nr. 10
Textautor: Bertolt Brecht
Jochen Schmeckenbecher |
baritone
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Cornelius Meister |
conductor
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Meine ersten drei Werke für die Bühne sind identisch mit drei verschiedenen und wesentlichen Stadien meiner künstlerischen Entwicklung; gleichzeitig fassen sie das mich an menschlicher Existenz, am Leben heute besonders Bewegende von drei verschiedenen Blickpunkten her. Sie sind alle eine Art »Welttheater«. In den Spiegeln wird Leben gleichsam aus einer raumzeitlichen Distanz betrachtet. »Netzwerk« wechselt die Perspektiven: Verhaltensweisen der Masse »Mensch« und mikroskopisch herangezogene, typisierte Individualbereiche stehen einander gegenüber und durchdringen einander. Das Verhältnis von menschlicher Gesellschaft und Individuum war auch an Brechts Baal jenes Problem, das mich am meisten interessiert und seit dem Anfang der Fünfzigerjahre beschäftigt hat – hier extrem und provokant vom Einzelnen her gesehen. »Baal« ist – und war für mich im Besonderen – eine Reflexion über das »Einsteigen«, das den Kern unserer Existenz betrifft. Er selbst tut es nicht, wie der Ichthyosaurus, der zur Zeit der Sintflut nicht in die rettende Arche steigen wollte, weil er »Wichtigeres« zu tun hatte in diesen Tagen. Baal lässt sich von den »Kunstsinnigen« nicht »verwursten «, die ihn hochloben und seine Gedichte verkaufen wollen; sie lassen ihn daher fallen. Aber auch dem »Volk«, den Chauffeuren, für die er in der Kneipe singt, ist »Kunst« nicht geheuer und das Publikum im Kabarett, in dem er später auftritt, erwartet von ihm ewig die gleichen Zoten: Eine Weile hält er seinen Kontrakt, um mit der Einzigen, die er länger bei sich behält, leben zu können – dann reißt er aus. Sein Hunger nach Leben, seine Suche nach dem Land, »wo es besser zu leben ist«, treiben ihn weiter und gleichzeitig immer mehr in die Isolation; aber das Wesentliche an ihm ändert sich nicht, während er sinkt. Inkarnation vitalen Glücksverlangens, ja des Vitalen schlechthin, ist er in des Wortes Grundbedeutung von Natur aus a-sozial. Baal ist aber vor allem auch ein provokantes Bild für ein Wesen, das die Bedingungen, die es braucht, um existieren zu können, nicht vorfindet und daher zugrunde geht. Seine Verweigerung gegenüber sich anbietenden vorgezeichneten Bahnen und »Paradiesen« ist keine spektakuläre, auf Verbesserung der Welt gerichtete, wie die gegenwärtiger Revolutionäre, und sie ist keine kleinbürgerliche, die im Rückzug liegt. In einer notgedrungen verwalteten Welt, in der zunehmend Menschen in Mechanismen kretinieren, wo selbst »sozial vernünftiges« Handeln sich auf schleichende Weise gegen unsere Lebenssubstanz zu richten beginnt, wo wir »Inhumanes« in dieser Form bald bewusst zu akzeptieren genötigt sein könnten, um in irgendeiner Form zu überleben, wird das unmittelbare Ausleben vitalen Glücksverlangens mehr und mehr zum Anachronismus.
Friedrich Cerha