Meister / Boulez, Maderna
für 4 Percussionisten und 4 Orchestergruppen
Cornelius Meister |
conductor
|
Sie sind gute Freunde um die Mitte der 50er Jahre, Luigi Nono, Karlheinz Stockhausen, Pierre Boulez, John Cage, Bruno Maderna. Man dirigiert wechselseitig die Musik der anderen, manchmal auch gleich gemeinsam wie bei der Uraufführung von Stockhausens »Gruppen« für Orchester 1958, an der neben dem Komponisten selbst Boulez und Maderna als die drei dafür notwendigen Dirigenten mitwirken. 1961 dirigiert Bruno Maderna die mit Stinkbomben gestörte und von der Venedig Biennale aus dennoch live im Radioübertragene Uraufführung von Nonos »Intolleranza«. Man unterrichtet gemeinsam in Darmstadt, entwirft Manifeste und verwirft sich darüber. Luigi Nonos »Il Canto Sospeso« entsteht in diesem Umfeld schon 1956 und ist auch Gegenstand heftigster Kontroversen selbst unter diesen Komponisten. »Rituel in memoriam Bruno Maderna« von Pierre Boulez entsteht knapp 15 Jahre später als eine Hommage und Erinnerung an die Energie, den Aufbruch, den Kampfgeist für eine zukünftige Musik für eine bessere Gesellschaft, die Klangsuche, die Raumöffnung, die Musikalität dieser Jahre, wie sie von Bruno Maderna exemplarisch verkörpert worden waren. 1972, London. Pierre Boulez ist Chefdirigent des BBC Symphony Orchestra und setzt anstelle der geplanten Uraufführung eines eigenen Werks – er war nicht fertig geworden – die Komposition »Aura« von Bruno Maderna aufs Programm. Dieser ist, wie schon lange bevor Freund Boulez Chef wurde, regelmäßiger Gast der BBC Symphony und soll später in diesem Jahr wieder dirigieren und zwar die Uraufführung eines eigenen Oboenkonzerts. Aber Maderna erkrankt und stirbt im November desselben Jahres. Der Schock unter den Freunden und in der Musikwelt sitzt tief, ausgerechnet den wahrscheinlich kommunikativsten und best vernetztesten – um es in heutigen Worten zu sagen – Kollegen überraschend verloren zu haben, einen fantasievollen, eigenständigen, charismatischen Musikerfinder, der in seiner Offenherzigkeit ein so strenger Konzeptionist wie kulinarischer Hedonist gewesen war. Auch Pierre Boulez ist getroffen und gießt seine Erschütterung in das eben entstehende Werk. Es wird ein Trauerritual perkussiver Beschwörung, schon die räumlich gedachte Aufteilung der Instrumentengruppen auf der Bühne ist eine Hommage an den so betont klangräumlich denkenden Bruno Maderna. Rituale erfordern Wiederholungen und so wird »Rituel in memoriam Bruno Maderna für acht Orchestergruppen« das wahrscheinlich am meisten mit Repetition von Klangschichtungen spielende Werk von Pierre Boulez. Zugleich ist es aber auch eines der rhythmisch offensten mit den in ihrer jeweiligen Zeit weiträumig voneinander unabhängigen Orchestergruppen. Das Kleinteilige von Klängen, Motiven, Themen zu verknüpfen mit dem Weiträumigen des gesamten Werks ist eine grundlegende Konstante des Komponierens, aber seit die europäische Musik die vorgegebenen Formen hinter sich gelassen hatte, musste gewissermaßen für jedes Werk neu eine Form so gefunden werden, dass aus genau diesem Verhältnis von Mikro- und Makrostruktur die erzählerische Kraft der Musik erwachsen kann. »Wenn man schreibt, stößt man oft, wo nicht gar immer, auf die Schwierigkeit, die Ebene der Mikro-Strukturen und die der Makro-Strukturen korrekt und frei in Dialog zu bringen, und zwar so, dass sie im Augenblick wie im Ganzen aufeinander verweisen. Mit anderen Worten: Die lokalen Ordnungen müssen unmittelbar oder durch aufeinanderfolgende Stufen aus einer sehr allgemeinen, ihrer Natur nach biegsamen Idee hervorgehen. Die Idee muss unmittelbarer Ausdruck des Systems sein, das System muss auf die zu verwirklichende Idee hin gesucht und gefunden werden«, schreibt Pierre Boulez damals. Im Augenblick wie im Ganzen aufeinander verweisen: Als Luigi Nono Mitte der 50er Jahre sein beinah oratorienhaftes Werk »Il Canto Sospeso« für Solostimmen, Chor und Orchester konzipiert, ist sein emotionaler und politischer Ausgangspunkt eine Sammlung von Abschiedsbriefen von zum Tode verurteilter Widerstandskämpfer gegen das faschistische Nazi-Regime. Aber Nono vertont die Texte nicht im traditionellen Sinn, sondern er behandelt sie so, wie soeben noch von Musik die Rede gewesen war: Die Mikro-Struktur einzelner Vokale und Sprachklänge verwoben zu einer Makro-Struktur der Gesamtanlage des Werks erzeugt jene konzentrierte, anklagende aber zugleich zuversichtliche Haltung und Stimmung, von der die Musik in aller politischen Absicht dann erzählt. »Die Botschaft jener zum Tode verurteilten Men-schen ist in mein Herz eingegraben wie in die Herzen all jener, die diese Briefe verstehen als Zeugnis von Liebe, bewusster Entscheidung und Verantwortung gegenüber dem Leben und als Vorbild einer Opferbereitschaft und des Widerstandes gegen den Nazismus, dieses Monstrum des Irrationalismus, welches die Zerstörung der Vernunft versuchte«, lautet Luigi Nonos Bekenntnis. Sein Werk wird 1956 von der musikalischen Fachwelt wahrgenommen als eine Art Blick in die Zukunft, etwas direkter formuliert als expressiver Weg einer Musik nach Anton
Webern, die emotionale Kraft weiterdenken kann, ohne den erreichten Grad an Fortschrittlichkeit aufzugeben. Stockhausen allerdings bemängelt die Fragmentierung der Sprache und fragt, warum dann überhaupt dieser Text. Ein Disput in Form von Aufsätzen ebenso wie öffentlichen Diskussionen entspinnt sich und Nono ist dermaßen empört darüber, dass ausgerechnet ein Mitstreiter diese grundsätzliche ästhetische und zugleich politische Haltung von Mikrostruktur zu Makrostruktur – um es nochmals mit Pierre Boulez zu sagen – nicht versteht, dass für Jahrzehnte der Kontakt abreißt. »Il canto sospeso« bleibt ein Meilenstein der Musik des 20. Jahrhunderts in seiner so unerbittlichen wie auch unerbittlich poetischen Kraft. Luigi Nono bleibt in diesem Sinne seinem Weg einer Musik, die an die Sensibilisierbarkeit des Menschen glaubt, für Jahrzehnte auf immer neue Weise treu. Im Laufe der Jahre gewinnt er andere Mitstreiter als in den 50er Jahren in Darmstadt. Die Parameter ändern sich, in ästhetischer, politischer und auch rezeptionsgeschichtlicher Weise. Musiker wie Claudio Abbado weisen seit den 70er Jahren, dem Beginn der aktiven Zusammenarbeit der Trias Claudio Abbado, Mauricio Pollini und Luigi Nono, immer wieder darauf hin, wie sehr ihn an Nonos Musik vor allem ihre Kantabilität fasziniere, etwas, das Abbado als musikalisches Erbe Nonos Heimatstadt Venedig interpretiert. Heutzutage fasziniert an großen Werken wie Boulez’ »Rituel« und Luigi Nonos » Il canto sospeso« nicht mehr nur die Kraft des zu Zeiten der Uraufführung als radikal Empfundenen, sondern mindestens ebenso eine beinah gegenläufige Rezeptionshaltung: wie sehr diese Komponisten in ihrer Radikalität zugleich auch in der Musikgeschichte ruhen und sie geschichtsbewusst fortschreiben, als große symphonische und oratorienhafte Formen, beruhend auf der jahrhundertelang in Europa immer wieder und immer weiter ausgereizten Polarität von Konstruktion und Expression.
(CS)