Das RSO Wien und der Nestlé and Salzburg Festival Young Conductors Award
Hinter jedem Dirigenten, jeder Dirigentin verbirgt sich einer von drei dornigen Pfaden. Der erste führt durch die Opernhäuser. Unsere fiktive, aber typische Nachwuchsdirigentin beginnt ihre Laufbahn als klavierspielende Korrepetitorin, sie begleitet Proben, übt mit Sängern, darf auch eine Produktion auf der Experimentalbühne dirigieren, springt kurzfristig für den erkrankten Chef ein und macht ihre Sache so gut, dass sie im nächsten Jahr für eine „Zauberflöte“ gebucht wird. Der zweite Prototyp spielt im Orchester und leitet die Gruppenproben mit Bravour. Als auch er eines Tages einspringen muss, ist sein Orchester begeistert, und so sammelt er genug Mut, um eine Zweitkarriere als Dirigent aufzubauen. Alles viel zu mühsam, sagt die Dritte und entscheidet sich für den glamourösen Weg. Sie gewinnt Dirigenten-Wettbewerbe.
Aber, ach! Bei all den zahlreichen glanzvollen Wettbewerben in London, Frankfurt, Bamberg, Besançon und Bukarest stehen hinter jedem Gewinner 100 Ausgeschiedene und Enttäuschte. Nicht einmal die Finalisten dürfen sicher gehen, dass die Karriere in Gang kommt. Oder dass sie nach einem fulminanten Start nicht nach fünf Jahren auf der Stelle tritt. Auch die Wettbewerbe verbinden dornige Pfade.
Der Nestlé and Salzburg Festival Young Conductors Award (YCA) unterscheidet sich auf den ersten Blick kaum von anderen Dirigentenwettbewerben. Eine elfköpfige Jury unter dem Vorsitz des ex-RSO-Chefs Dennis Russell Davies hat für den heurigen Wettbewerbs-Jahrgang 90 Bewerbungen geprüft und sich auf neun Kandidaten verständigt, die sich bei mit der Camerata Salzburg beweisen müssen. Noch im August 2018 steht die Gewinnerin oder der Gewinner fest; es winken € 15.000,–.
Aus Sicht des ORF Radio-Symphonieorchesters Wien ist der YCA etwas besonderes. Denn zum einen darf die Gewinnerin bzw. der Gewinner im Folgejahr das RSO Wien dirigieren. Und zum anderen liest sich der YCA-Stammbaum wie ein Who is Who der derzeit angesagtesten Dirigenten. Allen voran Mirga Gražynitė-Tyla, heute Chefin des Birmingham Symphony Orchestra; oder Duncan Ward, der die großen Orchester von Paris, München, London, Leipzig und Bamberg dirigiert – selbstverständlich auch das RSO Wien; Maxime Pascale, der innovative Leiter des Musikerkollektivs „Le Balcon“; Lorenzo Viotti, der in diesen Wochen die Leitung des Gulbenkian Orchestra in Lissabon übernimmt; schließlich Aziz Shokakhimov, Kapellmeister an der Deutschen Oper am Rhein und Erster Gastdirigent beim Verdi-Orchester in Milano. Der Nestlé and Salzburg Festival Young Conductors Award ist ein Empfehlungsschreiben erster Güte.
Am 5. August 2018 steht in der Felsenreitschule also der Gewinner des Wettbewerbs 2017 auf dem Dirigentenpoidum: Kerem Hasan, der inzwischen die Position des Associate Conductor an der Welsh National Opera innehat und sowohl mit den großen englischen Orchestern arbeitet, als auch mit dem Tonhalle-Orchester Zürich und den Festival Strings Lucerne. Der gebürtige Londoner (Jahrgang 1992) sprang vor wenigen Wochen für Bernard Haitink beim Royal Concertgebouw Orkest in Amsterdam ein und erntete enthusiastischen Beifall mit Mahlers Neunter Symphonie. Für sein Konzert mit dem RSO Wien hat er sich das Violinkonzert von Jean Sibelius mit Augustin Hadelich als Solisten gewünscht sowie die 10. Symphonie von Dmitrij Schostakowitsch. Ein starkes Programm und ein Türöffner für eine internationale, möglichst dornenfreie Dirigentenlaufbahn.
Christoph Becher