Gastspiel Hamburg. Meister, Holm, Ward / Stockhausen
Cornelius Meister |
Dirigent
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Dietger Holm |
Dirigent
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Duncan Ward |
Dirigent
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Rolando Paolo Guerzoni

Leuchtturm der Avantgarde
Kein Lippenbekenntnis, sondern Herzensangelegenheit: Bei neuer und neuester Musik ist das ORF Radio-Symphonieorchester Wien ganz in seinem Element. Das weiß man auch im hohen Norden, wie man an einer Einladung des Hamburger Musikfestes erkennt. Das RSO Wien steuert zum umfassenden Stockhausen-Schwerpunkt des Musikfestes 2018 mit »Gruppen« ein Hauptwerk der Neuen Musik nach 1945 bei – ein Werk, dessen Dimensionen selbst die Elbphilharmonie sprengen, weshalb das Hamburger Musikfest auf das erst vor wenigen Jahren eröffnete »Mehr! Theater am Großmarkt« ausweichen muss.
Karlheinz Stockhausen hat in den 50erund 60er-Jahren die großen Themen der Avantgarde – Improvisation, Elektronik, serielle Technik – in derart aufregenden Kompositionen gestaltet, dass er zu einer Kultfigur wurde. Sein Einfluss war so stark, dass er bis in die Pop-Musik reichte: Unter den 70 Personen, die das legendäre »Sgt.- Pepper«-Cover der Beatles zeigt, ist Stockhausen der einzige Komponist. Auch der messianische Opernzyklus »Licht«, mit dem sich Stockhausen in den letzten Jahrzehnten seines Lebens ausschließlich beschäftigte, mag zwar viel belächelt werden, dennoch pilgern die Fans zu jeder Teilaufführung von »Licht« durch ganz Europa. »Gruppen« ist das profilierteste Orchesterwerk der »seriellen Schule«, bei der nicht nur Tonhöhen, sondern auch Parameter wie Lautstärke, Tondauer oder Klang vorsortiert werden. Klingt nach Technik? Von wegen. Gerade »Gruppen« besitzt eine Sinnlichkeit, eine Emotionalität und Kraft, die sich jedem Hörer sofort mitteilt. Die Streicher schwirren gleich Insekten, die Holzbläser zwitschern wie die Vögel in der Früh, das Blech haut mit der Faust auf den Tisch. Ob das Schweizer Bergpanorama
die gezackten Konturen der Komposition inspirierte, wie Stockhausen selbst andeutete, oder nicht: Eine Aufführung der »Gruppen« ist ein Erlebnis – nicht zuletzt wegen der Gliederung der insgesamt 109 Musiker in drei Teilorchester mit je eigenem Dirigenten. Chefdirigent Cornelius Meister hat für das Hamburger Musikfest Duncan Ward, der das RSO Wien als Einspringer bei Wien Modern 2016 kennen und schätzen gelernt hat, und Dietger Holm, Dirigent am Heidelberger Theater, eingeladen. Die drei Orchester fassen hufeisenförmig das Publikum ein; Stockhausen hierzu: »Jedes Orchester sollte den anderen zurufen, Antwort oder Echo geben können.« Wird das Werk zweimal gespielt – was von der Uraufführung 1958 bis hin zum Hamburger RSO-Gastspiel nahezu zur Regel geworden ist –, kann man sich in der Konzertpause umsetzen und das gleiche Werk aus einer neuen Hörperspektive wahrnehmen. Auch außerhalb Hamburgs ist »Gruppen« ein akustischer Leuchtturm.
Christoph Becher